Patientenwohl versus Finanzinteresse: Wohin entwickelt sich unser Gesundheitssystem?, das Generalthema des Jahres 2023 wurde in der Frühjahrssitzung grundsätzlich diskutiert. Die Praxis-relevanz ist in der Herbsttagung zentraler Berichts- und Diskussionspunkt gewesen. Was sind positive Beispiele und was sind die Rahmenbedingungen gelungener neuer Modelle in der Versorgung der Patienten?
Das Patientenwohl, Customer Value und Public Value sind und bleiben die Ziele des Gesundheitssystems. Geschäftsmodelle haben sich diesem Ziel unterzuordnen. Kluge Regulatorik verfolgt im Ergebnis dieses Ziel. Es geht darum, wie die Wertschöpfung des Systems
auf die Versorgung der Patienten und die Qualität der Angebote konzentriert werden kann. Eine Unterscheidung in „gutes Geld“ und „schlechtes Geld“ trägt dazu nicht viel bei. Kluge Regulierung und Fokussierung auf Versorgungsprozesse und Ergebnisse sind die Mittel der Wahl. Soweit ein extrem verdichtetes Fazit der Frühjahrsdebatte.
Geschäftsmodelle und Gesellschaftsstrukturen sind immer auch strategische Entscheidungen. Es sind in der Regel auch sehr langfristige Entscheidungen. Die Wahl konkreter Geschäftsmodelle von Unternehmen folgt vielfältigen Anreizen und Zielen. Entscheidungen der beteiligten Gesellschafter zur Aufbau- und Ablauforganisation von Unternehmen benötigen Vertrauen in die Stabilität der Rahmenbedingungen mindestens im Investitionszyklus, besser weit darüber hinaus. Geschäftsmodelle folgen „langen Linien“, Pfadabhängigkeiten und der strukturellen und kulturellen Verfasstheit der Märkte. Dies gilt auf allen dauerhaft wertschöpfenden Märkten, besonders auch auf den verschiedenen Märkten eines Gesundheitssystems. Und das macht flexible Formen der Kooperation auch so schwierig.
Gemeinsam ist allen Strukturen des Gesundheitssystems, dass die Historie von einem „sorgenden Motiv“ geprägt war und weiterhin ist. Das sorgende Motiv dominiert jede politische und ökonomische Debatte im Gesundheitswesen. Die aktuelle Krankenhausreform, die Pflegereform, die Sicherung der Finanzgrundlagen der GKV, überall dominieren die Themen Versorgungssicherheit, Gemeinwohl und Bedarfsnotwendigkeit. Das ist zunächst kein schlechter Fokus. Schwierig wird es, wenn Anpassungsdruck herrscht, wenn Änderungen im organisatorischen Status quo angezeigt sind.
Die Ursachen des vermehrten Anpassungsbedarfs sind bekannt, vielfältig und unabhängig von der jeweiligen Trägerstruktur: die demografische Entwicklung und der Fachkräftebedarf, die technologische Entwicklung, die zunehmend digitalen Prozesse bei der Zusammenarbeit und der mit all dem steigende Finanzbedarf für die entsprechende moderne Infrastruktur, die dies leisten kann.
Die demografische Entwicklung ist von mindestens drei Effekten geprägt: der wachsende medizinische und pflegerische Leistungsbedarf, der fehlende Fachkräftenachwuchs für die kleinteilige Angebotsstruktur im Status quo, die veränderten Erwartungen potenzieller Fachkräfte an ihre jeweilige Berufsrolle.
Die technische Entwicklung bei Diagnostik und Therapie bewirkt ebenfalls mehrere organisatorische Konsequenzen. Das Ziel einer präziseren Diagnostik und Therapie bedeutet im Status quo mehr technische Infrastruktur für einen immer kleineren Kreis dafür infrage kommender Patienten. Dies ist ein organisatorisches Problem, ein ökonomisches Problem, nicht zuletzt ein qualitatives Problem und ein Schulungsproblem für das gesamte Team.
Unabhängig von der Frage nach seiner Amortisierung stellt der massiv steigende Finanzbedarf einer so modernen Infrastruktur eine erhebliche Markteintrittsbarriere für Einzelunternehmer oder kleine Organisationseinheiten dar. Das Risiko, ein so differenziertes Angebot vorzuhalten, verlangt nach belastbaren Organisationsmodellen und -größen.
Dabei ist historisch in den Sektoren des Gesundheitssystems die private Finanzierung die Regel. Eine rein öffentliche Finanzierung über Steuern ist nur im stationären Sektor (bei der Investitionsfinanzierung durch die Bundesländer) und in der öffentlichen Trägerstruktur für ca. ein Drittel der Häuser vorzufinden. Doch gerade hier gibt es Probleme und Verwerfungen. Die nachhaltige Weigerung der Länder, ihre Investitionsverpflichtungen angemessen zu bedienen, trieb die Häuser zu einer Zweckentfremdung von Anteilen der Betriebskostenfinanzierung (über DRG) zur Stützung von notwendigen Investitionen.
Schon dieses Beispiel zeigt, dass es nicht darum gehen kann, privates Engagement und privates Kapitel zu diskreditieren und neue Hürden zu errichten. Es gibt die Überzeugung, dass die Herausforderungen durch knappe Personalressourcen, die Notwendigkeit der Koordination, Kooperation und Kommunikation, die rasanten differentialdiagnostischen und therapeutischen Entwicklungen, die Vernetzung und Plattformen und die digitalen Prozesse nachhaltige Strukturveränderungen bewirken werden. Strukturveränderungen, die neues Kapital benötigen, in Größenordnungen, die den Einzelunternehmer überfordern und die neue gesellschaftsrechtliche Arrangements erfordern.
Ziel muss es sein, dass das Sorgemotiv gegenüber den Patienten unabhängig von der Einbindung der Sorgenden in Träger und Finanzierungsstrukturen erhalten bleibt. Im Status quo ist die Vernetzung der Akteure und die Hilfestellung bei deren Organisation ein Schlüssel auf dem Weg zur besseren Koordination der Abläufe, der Kooperation der am Versorgungsprozess Beteiligten und der Zeit- und Raum überwindenden Kommunikation.
Vernetzungen und übergreifende, gut koordinierte Angebote fokussieren auf die Themen Förderung der Gesundheitskompetenz und Prävention, Entwicklung innovativer Versorgungsformen, niederschwelliges Angebot in Gesundheitsregionen und Ansatzpunkte zur Überwindung der Sektorengrenzen.
Neue Angebote sollten die Komplexität und Intransparenz nicht erhöhen, sondern abbauen. Die noch kurze Geschichte der ASV ist eine eindrückliche Warnung vor weiterer Regelungsdichte und Bürokratie. Sie ist auch ein Beispiel dafür, wie die gemeinsame Selbstverwaltung trotz weitreichender Gestaltungsmöglichkeiten die Chance verpasst hat, ein attraktives, sektorenunabhängiges Geschäftsmodell auf den Weg zu bringen – der Flickenteppich an der Schnittstelle ambulantstationär wurde und wird immer größer. Dieses Flickwerk ist genauso wenig zielführend wie die etwaige Schaffung neuer Versorgungsebenen oder -sektoren. Nicht reden, sondern machen! Mehr Kooperation und Vernetzung wären auch heute schon unter den gegebenen Rahmenbedingungen möglich.
In der Onkologie gibt es einige solcher erfolgversprechenden Modelle. Hier kann auf eine lange und von der Deutschen Krebsgesellschaft intensiv betriebene Entwicklung hin zu einer Netzwerkmedizin aufgebaut werden. Das Konzept einer forschungsbasierten und „Wissen generierenden Versorgung“ (DKG) bietet auch für andere Disziplinen der Medizin eine gute Grundlage.
Auf dieser Basis hat Michael Hallek (Uni Köln), der Vorsitzende des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, ein in der Praxis funktionierendes Konzept vorgestellt. Das Centrum für Integrierte Onkologie (CIO) in Nordrhein-Westfalen mit den Standorten Aachen, Bonn, Köln und Düsseldorf zur ambulanten Versorgung von Krebspatienten, das erreicht seit 2018 etwa elf Millionen Menschen.
Das Hessische Ministerium für Soziales und Integration (HMSI) verfolgte im Jahr 2010 mit dem hessischen Onkologiekonzept zwei Ziele: Über eine strukturverändernde Krankenhausplanung sollten Bettenkapazitäten abgebaut und über die Bildung von Netzwerken die Qualität der Krebsbehandlungen verbessert werden.In den sechs Versorgungsgebieten des hessischen Krankenhausplans arbeitet jeweils ein koordinieren des Krankenhaus als Kompetenzzentrum (finanziell unterstützt durch einen Zentrumszuschlag) über Tumorboards mit den regional kooperierenden Häusern zusammen. In einem weiteren Schritt werden im Netzwerk für eine wohnortnahe Folgebehandlung die niedergelassenen Fachärzte und weitere Gesundheitseinrichtungen eingebunden.
Aber auch bei der Förderung der Forschung (siehe Frankfurter Forum Hefte 26 und 27) wurde Nachholbedarf erkannt. Im Februar 2023 wurde das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen (NTC) mit einem Fördervolumen von 14 Millionen Euro in Kooperation von BMBF und sechs universitären Standorten aus fünf Bundesländern (Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Nordrhein-Westfalen und Sachsen) gebildet, um Forschungstätigkeiten und Managementkapazitäten zu finanzieren und die Translationslücke zur Patientenversorgung zu schließen Schließlich ist die Rehabilitation gefordert, passgenaue Angebote für diese vernetzten Strukturen zu entwickeln. Aktuelle Evaluationen betonen die Vorteile von individuellen und zeitlich flexiblen Reha-Therapien gegenüber der klassischen stationären Rehabilitation, die auch ambulant und wohnortnah in vom Reha-Träger zertifizierten Einrichtungen erfolgen können.
Insgesamt entwickelt sich mit Blick auf die neuen Versorgungsformen und Versicherungsmodelle ein stärkerer Pragmatismus. Durch das in Deutschland diskutierte Konzept der Gesundheitsregionen mit alternativen Vertragsformen kommt eine neue Belebung in eine alte Debatte. Der Blick „über den Zaun“, hier in das Nachbarland Schweiz, zeigt, dass pragmatische Lösungen und wettbewerbliche Suchverfahren angezeigt sind, um die Herausforderungen der Zukunft zu meistern. Das Ziel bestimmt den Weg, das Ziel ist, eine patientenorientierte Medizin möglich zu machen.
DR. REGINA KLAKOW-FRANCK, PROF. DR. H.C. HERBERT REBSCHER, PROF. DR. VOLKER ULRICH