Seit der Einführung des DRG-Systems ist die sogenannte Ökonomisierung der Medizin ein Dauerthema in der gesundheitspolitischen Debatte. Zwar wünscht sich niemand mehr die Zeiten tagesgleicher Pflegesätze zurück – zu offensichtlich waren die überlangen stationären Verweildauern. Gleichwohl wurde schon sehr früh auf Risiken des Fallpauschalensystems durch ökonomische Fehlanreize hingewiesen. All die prognostizierten unerwünschten Effekte sind dann auch eingetreten (exorbitante Mengenausweitung, Schließung eigentlich bedarfsnotwendiger Fachabteilungen wie zum Beispiel Kinder- und Jugendmedizin, Personalabbau insbesondere in der Pflege, uvm.), ohne dass die Mehrheit der Krankenhäuser wirtschaftlich gesünder dastehen würde als vorher.
Gleichzeitig stellt die stationäre Versorgung in Deutschland unverändert den mit Abstand größten Ausgabenblock dar mit einer der weltweit höchsten Krankenhausdichte, obwohl alle Zeichen eigentlich in Richtung einer „Ambulantisierung der Medizin“ weisen. Kaum zehn Jahre nach der Fallpauschalen-Einführung ergab die stationäre Versorgung in Deutschland das Bild einer kollektiven Erschöpfung in einem Erlösgetriebenen, sich immer schneller drehenden Hamsterrad, in dem das Patientenwohl auf der Strecke bleibt.
Angesichts dieser Entwicklung sah sich der Deutsche Ethikrat 2016 zu einer Stellungnahme „Patientenwohl als ethischer Maßstab für das Krankenhaus“ veranlasst. Hier in geht der Deutsche Ethikrat nicht nur auf die Fehlanreize des DRG-Systems und die Schiefstände aufgrund der dualen Finanzierung ein, sondern beleuchtet insbesondere auch die Trägerstruktur im stationären Sektor: Parallel zur Einführung des Fallpauschalensystems entwickelten sich Krankenhäuser in privater Trägerschaft von einem „Nischenprodukt“ zu einem bedeutenden Träger mit immer größer werdendem Marktanteil. Speziell von Vertretern der Ärzteschaft wurde die „Privatisierungswelle“ für die „Ökonomisierung der Medizin“, für einen auf Rendite statt auf Patientenwohl ausgerichteten Paradig-menwechsel in der stationären Versorgung verantwortlich gemacht.
Tatsache ist, dass private Einrichtungen durch verschiedene unternehmerische Faktoren (wie z. B. professionelles Management, größere Entscheidungsgeschwindigkeit, höherer gezielter Kapitaleinsatz) offenbar besser und schneller auf die veränderten Rahmenbedingungen reagieren konnten als kommunale und freigemeinnützige Einrichtungen. Die Annahme, Krankenhäuser in privater Trägerschaft würden zur Gewinnmaximierung „Rosinenpickerei“ betreiben, hält einer näheren Betrachtung nicht stand (der Schweregrad der Erkrankungen sowie das Alter der Patientinnen und Patienten ist in privaten Krankenhäusern nicht geringer als in öffentlichen oder freigemeinnützigen Häusern).
Gleichwohl wird das Narrativ der Ökonomisierung der Medizin durch private Investoren weiter kultiviert, als hätten sich nicht längst schon alle Krankenhausträger markwirtschaftlich aufgestellt und Tochter-Gesellschaften gegründet oder sind, wie z. B. die Charité und andere Uniklinika, komplett in Konzerne umgewandelt worden. Die Frustration, Demotivation und Abwanderung des ärztlichen und pflegerischen Personals ist hier nicht geringer als in privaten Krankenhaus-Ketten.
„Um den wirtschaftlichen Druck auf möglichst viele Behandlungsfälle zu senken“, empfiehlt die in dieser Legislaturperiode eingesetzte „Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung“, die Kliniken nach drei neuen Kriterien zu honorieren: Vorhalteleistungen, Versorgungsstufen und Leistungsgruppen. Das Problem des Investitionsstaus, der in einem immer größer werdenden Umfang durch die DRG-Erlöse quersubventioniert werden muss und damit den Teufelskreislauf der Mengenausweitung noch zusätzlich anheizt, wird im Papier der Regierungskommission umgangen. Im Rahmen der Diskussion im Frankfurter Forum wurde deutlich, dass Kritik an der dualen Finanzierung, die ja nicht gottgegeben ist, sondern 1972 eingeführt wurde, politisch nicht erwünscht war.
Es bleibt abzuwarten, wieviel von den Vorschlägen der Regierungskommission seinen Weg in das neue Krankenhaus-Gesetz finden wird. Bis auf weiteres bedarf es großer Fantasie für die Vorhersage, die nächste Krankenhaus-Reform werde eine „Revolution“ in der stationären Versorgung entfachen. Weniger großspurig angekündigt, aber strategisch bedeutsam war hingegen das Krankenhauszukunftsgesetz, das bereits zum 1. Januar 2021 in Kraft getreten ist. Insgesamt wurden den Krankenhäusern 4,3 Milliarden Euro zur Förderung von Investitionen in moderne Notfallkapazitäten und eine bessere digitale Infrastruktur zur Verfügung gestellt. Fakt ist leider, dass ein sehr großer Anteil der staatlichen Zuschüsse zu verfallen droht, weil – Stand Mitte 2023 – die Krankenhäuser mehrheitlich noch gar nicht oder zu spät Investitionsvorhaben ausgeschrieben haben.
Noch weiter als im stationären Sektor oder allgemein in der Patientenversorgung ist die Privatisierung von Trägerstrukturen im Rahmen der Pflegeversicherung vorangeschritten. Obwohl man angesichts des kontinuierlich steigenden Pflegebedarfs von einem „attraktiven, stabilen“ Wachstumsmarkt ausgehen würde, sind auch hier erste Insolvenzen zu verzeichnen. Insbesondere der – trotz einer eigentlich absolut betrachtet hohen Anzahl von Pflegepersonal pro Einwohner in Deutschland – eklatante Fachpersonalmangel verdeutlicht einmal mehr die besonderen, demografischen und gesellschaftlichen Zukunfts-Herausforderungen an die sozialen Sicherungssysteme. Der hohe Anteil an „Informal Carers“ (pflegende Angehörige und Freunde), bis dato als „kostenlose“ Leistung gern mitgenommen, wirft auf Dauer die Frage auf, ob der Staat im Sinne von meritorischem Handeln nicht stärker in Angebot und Nachfrage eingreifen müsste; um mehr „Willingness to pay“ zur Abwendung der drohenden pflegerischen Unterversorgung zu erzeugen.
Auch im Pflegesektor stellt sich die Frage, wer zukünftig eigentlich die erste Anlaufstelle bzw. der Primärversorger des Pflegebedürftigen ist. Für die Patientenversorgung ist diese Frage im Prinzip schon seit langem geklärt, es gilt der Grundsatz „ambulant vor stationär“. Nach den Vorstellungen der Regierungskommission für die Krankenhausreform soll den Level Ii-Krankenhäusern eine Schlüsselrolle auf dem Weg zur Überwindung der „zu häufig noch stationär ambulant getrennten Gesund-heitsversorgung“ zukommen. Auf Empfehlung derselben Regierungskommission ist bereits die neue tagesstationäre Behandlung (Paragraf 115e SGB V) eingeführt worden: Demnach dürfen Krankenhäuser Behandlungsfälle weiterhin im stationären Setting nach DRG abrechnen, obwohl diese auch im ambulanten Setting erbracht werden könnten, dann aber nach dem unattraktiveren EBM abgerechnet werden müssten.
Gedacht zur kurzfristigen Entlastung der Krankenhäuser um Pflegekosten (die gar nicht anfallen würden, würde man dieselbe Leistung im ambulanten Setting erbringen) wurde – um Falschabrechnungen zu vermeiden – ein bürokratisches Monster geschaffen. Das neue Angebot tagesstationärer Behandlung mag zur Sicherung der Marktposition der Krankenhäuser im Kontext einer fortschreitenden Ambulantisierung der Medizin beitragen – mit einer Überwindung der sektoralen Grenzen hat es nichts zu tun.
Grundsätzlich gilt, dass innovative Angebotsstrukturen und sektorenübergreifende Versorgungsprozesse sich nur schwer innerhalb eines Ordnungs- und Vergütungsrahmens um- bzw. durchsetzen lassen, der für sektorspezifische Anbieterstrukturen und Leistungsmerkmale geschaffen wurde. Um so erfreulicher ist, dass es dennoch Beispiele engagierter Neugründungen von Medizinischen Versorgungszentren gibt, die sich auf die Versorgung einer Patienten-Klientel spezialisieren, die wenig „lukrativ“ erscheint, zum Beispiel die Versorgung von vulnerablen Patientengruppen in großstädtischen sozialen Brennpunkten.
Haus- und fachärztliche Versorgungsengpässe werden nicht nur in städtischen Problem-Bezirken oder in ländlichen Randzonen, sondern allgemein entstehen. Die Probleme, die die ärztliche Baby Boomer-Generation aktuell bei der Nachbesetzung, d.h. beim Weiterverkauf ihrer Praxissitze hat, machen überdeutlich, dass das Geschäftsmodell der Einzelpraxis, dass die vertragsärztliche Versorgung bisher geprägt hat, endgültig ausgedient hat. Immer mehr ärztliche und insbesondere auch zahnärztliche Praxissitze werden dabei von privaten Investoren übernommen; die aktuelle Debatte um Investoren-betriebene Medizinische Versorgungszentren (iMVZ) war der konkrete Anlass für das Frankfurter Forum, sich erneut mit dem Spannungsfeld zwischen Ökonomie und Patientenwohl zu beschäftigen.
Das Engagement von Private-Equity-Gesellschaften im Zusammenhang mit der Übernahme von Praxissitzen darf nicht unkritisch gesehen werden: Bislang waren Praxen mit hohem Anteil an technischen Leistungen (Radiologie, Labormedizin, Dialyse) und standardisierten ambulanten Operationen (beispielsweise Kataraktoperationen) gefragt, hausärztliche, kinderärztliche oder psychotherapeutische Praxen waren weniger von Interesse. Auch sind – wie Ulrich Wenner so trefflich formuliert – „die positiven Auswirkungen für eine sektorenübergreifende Versorgung, die davon ausgehen sollen, dass ein Investor ein kleines Krankenhaus der Grundversorgung im Westerwald kauft und damit augenärztliche MVZ in ganz Deutschland gründet“, nicht nur für den ehemaligen Vorsitzenden des für die vertragsärztliche Versorgung zuständigen Senats des Bundessozialgerichts noch nicht klar geworden (Ulrich Wenner, Gutes Geld und Schlechtes Geld – Gefährden MVZ in der Hand von Finanzinvestoren die vertragsärztliche Versorgung, vom 12.01.2023).
Die Kritik, iMVZ würden eine schlechtere Versorgungsqualität abliefern, hält allerdings – wie schon bei den Krankenhäusern in privater Trägerschaft - einer näheren Betrachtung nicht Stand und dient wohl eher der Verteidigung alter Besitzstände.
Seit den 1990er Jahren bewegt sich das GKV-System in einem Spannungsfeld zwischen politisch gewollter stärkerer Marktausrichtung und dem Leitprinzip des Patientenwohls. Dank sprudelnder Beitragseinnahmen ist das System noch leistungsstark, aber nicht effizient, und auch nicht zukunftsorientiert. Das vom aktuell amtierenden Bundesgesundheitsminister ausgelobte neue Leitprinzip „weniger Ökonomie, mehr Medizin“ ist vor dem Hintergrund von Fehlentwicklungen nachvollziehbar, setzt trotzdem jedoch die falschen Signale. Gefragt ist nicht etwa die Rückkehr zu einem Chefarzt-Wunschkonzert, sondern eine Neugestaltung der Versorgung, bei der der Customer Value, i.e. der Patientennutzen im Mittelpunkt steht.
Die Effizienz des Ressourceneinsatzes im Solidarsystem der gesetzlichen Krankenversicherung und ein daraus ggf. resultierende Gewinn hat sich an diesem Custmer-Value, am Nutzen für die Patientinnen und Patienten zu bemessen, und nicht am Shareholder Value (im Interesse von Investoren) oder am Stakeholder Value (im Interesse von Bestandskrankenhäusern und -Praxen). Dies muss unabhängig davon gelten, von wem die medizinische Einrichtung betrieben wird. Ökonomisches Denken als solches ist nicht des Teufels, sondern öffnet die Augen für die stattgehabten Fehlentwicklungen und eine notwendige Neuausrichtung im deutschen Gesundheitswesen auf Value Based Health Care im oben genannten Sinne.
DR. REGINA KLAKOW-FRANCK, PROF. DR. H.C. HERBERT REBSCHER, PROF. DR. VOLKER ULRICH